Text des Monats

SPIRITUALITÄT DER VERÄNDERUNG

Teil 1: Aufbruch ohne Landkarte

SPIRITUALITÄT DER VERÄNDERUNG IST EINE BLOG-SERIE VON PROF. TOBIAS FAIX, DTH (UNISA)

 

„Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist, und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach althergebrachten Rezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines alltäglichen Lebens.“

Madeleine Delbrêl aus: „Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße“

 

Christsein bedeutet, beständig unterwegs zu sein – offen zu sein für Veränderungen und Gott unterwegs neu zu erfahren. Als Kirche dürfen wir Reich Gottes gestalten, die Welt bewegen, gemeinsam neue Deutungsräume eröffnen, in denen wir zusammen ringen, wie diese Veränderungen aussehen sollen, wie wir unseren Glauben gestalten und leben können, und welche Richtung wir einschlagen.

Dass Kirche im Umbruch lebt, gehört nicht nur zu ihrem Wesen und ihren Stärken, zugleich ist es auch eine zunehmend um sich greifende gesellschaftliche Realität, die immer mehr Christ*innen erfahren. Herausfordernde Etappen liegen vor uns als Kirche, dabei müssen wir uns auf dem Weg immer wieder neu orientieren, wohin die gemeinsame Reise geht. Denn eines ist klar, die Zeiten sind zu unruhig und das Gebiet zu unsicher, als dass wir mit Sicherheit sagen können, wo wir am Ende rauskommen werden. Ungewissheit heißt dabei nicht Planlosigkeit, sondern bedeutet eine erhöhte Wachsamkeit und den Mut für neue Schritte. Und wir vertrauen dabei, dass „Gott unterwegs zu finden ist“, deshalb sind wir in einer ständigen geistlichen Reflexion des eigenen Tuns. Eine Haltung des Hörens auf Gott ist dabei unumgänglich.

Diese Serie hat die Intention, genau diesen Prozess mit unterschiedlichen kleinen Inspirationen zu unterstützen und soll zum „Finden in der Armut eines alltäglichen Lebens“ helfen an den verschiedenen kirchlichen Orten und Ebenen von Kirche. Es geht nicht um eine neue Zielbestimmung, sondern um eine Reflexion auf dem gemeinsamen Weg. Es ist keine Landkarte, die den einen geistlichen Weg zeigt, sondern die unterschiedlichen Impulse sollen dazu herausfordern, spirituell wachsam und suchend zu bleiben. Bleiben wir bei der Metapher des gemeinsamen Weges, dann könnte man von „geistlichem Proviant“ für die Reise reden, das uns stärkt und auf der Reise unterstützt.

In diesen Blogbeiträgen spreche ich vom „Wir“ und beziehe mich auf Kirche in ihren unterschiedlichen Funktionen und Verantwortungen. Dies tue ich bewusst, denn wir sind als Christ*innen in Kirche gemeinsam unterwegs, in unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortungsbereichen, haupt- und ehrenamtlich und doch sind wir alle verbunden durch denselben Geist Gottes. Und wir alle vertrauen darauf, dass es Gottes Kirche ist und nicht unsere, dass wir teilhaben an seinem Wirken, was uns bei aller Verantwortung auch entlasten kann: Es hängt nicht an uns.

Schauen wir auf den „großen Reiseatlas“ unseres Glaubens, die Bibel, dann ist das, was wir gerade durchleben, eher Normalität als Ausnahme. Das Volk Israel war im Alten Testament zumeist ein Pilgervolk und Gott war mit ihnen unterwegs, Jesus selbst war mit seinen Jünger*innen auf Wanderschaft und die ersten Christ:innen wurden „die Anhänger*innen des neuen Wegs“ (Apg. 9) genannt. Wir stehen also in guter Tradition, denn Glaube und dessen Gestaltung unterliegt einem ständigen Wandel, ja sogar einer Verwandlung.

Evangelisch sein heißt, genau dafür gemeinsame Deutungsräume zu eröffnen. Gemeinsam darum zu ringen, wie diese Veränderungen aussehen, wie Glaube zu gestalten und zu leben und welche Richtung einzuschlagen ist. Diese Reflexion, um in der Bewegung Gottes zu sein, macht Kirche aus, denn Kirche ist mehr als eine reine Organisationsform oder eine soziale Bewegung, sie ist Teil des neuen Reiches Gottes hier auf Erden. Und die Spannung zwischen der sich verändernden Wirklichkeit dieser Welt und der uns verändernden Wirklichkeit des Reiches Gottes ist groß und ein ständiger Herausforderungsprozess, den wir auch in Transformationsprozessen spüren, erleben und auf den wir uns immer wieder einstellen müssen.

In der zentralen Bekenntnisschrift evangelischer Kirchen, der Confessio Augustana (1530), findet sich für dabei eine wertvolle Grundunterscheidung, wenn Kirche in ihren verschiedenen Dimensionen beschrieben wird. Die una sancta ecclesia, die heilige christliche Kirche als Glaubensgeschehen manifestiert sich in dieser Welt in einer konkret wahrnehmbaren Gestalt. Die Kennzeichen der wahrnehmbaren Gestalt, mit deren Hilfe eine „richtige“ von einer „falschen“ Ausprägung von Kirche unterschieden werden kann, sind nicht mehr als die schriftgemäße Predigt des Evangeliums und eine evangeliumsgemäße Darreichung der Sakramente Taufe und Abendmahl. Mit anderen Worten: Alles andere kann an der organisationalen Gestalt der Kirche flexibel sein und ist doch Kirche als creatura verbi Divini (Geschöpf des Wortes Gottes). Organisationale Kirche, die an den Kennzeichen der Kirche Jesu Christi festhält, bleibt ja immer in unauflöslicher, integraler Verbindung mit ihr.

Zum „Aufbrechen ohne Landkarte“ soll die Unterscheidung aus CA VII helfen: Solange die Kennzeichen der sichtbar gewordenen Kirche wahrnehmbar sind, kann alles andere den Zeitläufen unterworfen sein und seine Gestalt verändern, ja muss dies sogar. Wir brechen auf mit der Gewissheit, dass Gott seiner Kirche als Versammlung der Glaubenden erhalten wird, auch wenn sich ihre organisationalen Grundbedingungen radikal verändern sollten.

Vielleicht geht es manchem wie der berühmten Pianistin Maria J. Pires aus Portugal, die in Amsterdam mit dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchestra ein Klavierkonzert Mozarts unter der Leitung von Riccardo Chailly spielen wollte und bei den ersten Takten des Orchesters feststellt, dass sie sich auf das falsche Mozartkonzert vorbereitet hat. Fassungslos sitzt sie da, starrt den Dirigenten voller Panik an und versucht mit ihm zu kommunizieren. Der lässt sich aber nicht beirren und dirigiert das Orchester weiter. Minuten kommunizieren die beiden miteinander und dann fängt Maria J. Pires Mut und lässt sich langsam auf das Stück ein. Stück für Stück kommt sie rein, unsicher abtastend, die Augen immer noch voller Angst, aber dann finden beide immer mehr zusammen und es wird ein wundervolles gemeinsames Konzert.

Vielleicht geht es einigen in Kirchen und Gemeinden ähnlich und es fühlt sich an wie im falschen Stück: unsicher, vielleicht wütend, vielleicht aber auch nur ratlos und müde. Und das ist auch okay, denn das, was wir von Maria J. Pires und ihrer Situation lernen können ist, dass wir versuchen, gemeinsam die Situation zu meistern, zu kommunizieren, den Rhythmus anzupassen, den anderen verstehen zu lernen und ein gemeinsames Tempo zu finden. Im Video von dem Konzert kann gesehen werden, wie Dirigent und Pianistin sich immer wieder abstimmen und ermutigen, bis sie zusammenkommen. Aber Maria J. Pires musste auch den Mut fassen, sich darauf einzulassen, die fremde und unsichere Situation anzunehmen, auch wenn in ihrem Kopf ein ganz anderes Stück war.*

Zu Beginn ein paar Fragen zur persönlichen Selbstverortung:

  • Wo in meiner Biographie habe ich Veränderungsprozesse erlebt? Was habe ich im Nachhinein aus diesen Phasen gelernt?
  • Wenn ich an Spiritualität oder den eignen Glauben denke, dann bedeutet das für mich persönlich?
  • Wie würde ich folgenden Satz ergänzen: „Wenn ich an Kirche denken, dann ...“
  • Was habe ich bisher von kirchlichen Reformprozessen wahrgenommen? Welche Stellung und Aufgabe sehe ich darin für mich?
  • Wie würde ich meine bisherigen Erfahrungen in kirchlichen Veränderungsprozessen beschreiben? (Was finde ich gut? Was finde ich schwierig?)
  • Wie sehr bin ich bereit meine bisherige Arbeitsweise und mein Berufsverständnis zu verändern?

Ich wünschen uns, dass wir als Kirche(n) in aller evangelischer Vielstimmigkeit die Segnungen und Reichtümer einer transformativen Spiritualität entdecken und leben dürfen. Wie dies konkret verstanden und eingeübt werden kann, soll in den nächsten vier Blogbeiträgen erklärt werden. Die Beiträge analysieren dabei zwei größere Teile. Zunächst will ich erklären, warum eine Spiritualität der Veränderung für Reform- und Veränderungsprozesse von Kirchen so wichtig ist und welche grundlegenden Werte und Haltungen es dazu bedarf. Darauf aufbauend führe ich in eine Toolbox ein, in der es verschiedene Instrumente gibt, die ganz praktisch in Kirchengemeinden und den verschiedenen kirchlichen Ebenen angewandt werden können, um spirituelle Achtsamkeit in Reform- und Veränderungsprozessen einzuüben.


Vertiefung:

Madeleine Delbrêl, Deine Augen in unseren Augen: Die Mystik der Leute von der Straße. Ein Lesebuch

Spiritualität der Veränderung. Einführung in eine organisationale Achtsamkeit in kirchlichen Veränderungsprozessen. Die Gedanken wurden inspiriert und reflektiert durch den Master Transformationsstudien und dem Reformprozess der EKKW

 


*Das Beispiel verdanke ich Hans-Hermann Pompe aus seinem Buch: Kirchensprung: „Warum Kirchenentwicklung und Mission einander brauchen.“

 

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